Neulich ging bei mir das Licht aus. An einem Morgen im August konnte ich plötzlich mit meinem linken Auge nichts mehr sehen. Herzrasen, Atemnot und Panik. Meine Frau war schon aus dem Haus und ich griff zum Telefon um meinen Augenarzt anzurufen. Der war allerdings im Urlaub und sein Anrufbeantworter verwies auf seine Vertretung in Notfällen. Die Sprechstundenhilfe seiner Vertretung fragte mich als Erstes, ob ich denn auch ein Notfall sei. “Ich denke schon.”, erwiderte ich. “Da ich nämlich auf meinem linken Auge nichts mehr sehen kann.”
“Wie lange haben Sie das schon?”, fragte die Dame am Apparat.
“Seit heute Morgen.”, antwortete ich.
“Und ist es denn wirklich dringend? Wir sind nämlich schon sehr voll in der Praxis.”, vergewisserte sie sich.
“Ja, ich denke es ist dringend.”, bestätigte ich. “Denn ich kann auf meinem linken Auge nichts mehr sehen. Wenn Sie verstehen was ich meine. Und mit nichts mehr sehen meine ich, ich KANN NICHTS MEHR SEHEN. Was wäre denn Ihrer Meinung nach dringend?”
“Na gut, als wenn Sie meinen das es dringend ist, kommen Sie halt in die Sprechstunde. Aber Sie müssen mit einer langen Wartezeit rechnen, da wir wirklich sehr voll sind.”, hatte die junge Dame endlich ein Einsehen mit meiner Befindlichkeit.
Nun gut, der Augenarztbesuch nahm seinen weiteren Verlauf, ich wurde ungehalten am Empfangstresen und ausnahmsweise vor gelassen.
Die Augenärztin hielt mir eine Karte mit waagerechten und senkrechten Linien vor die Nase und wollte wissen, ob ich die Linien gerade oder gebogen sehen.
“Ich sehe nicht einmal die Karte.”, antwortete ich.
Da wurde der Augenärztin bewusst, was ich meinte als ich sagte, ich könne nichts mehr sehen. Sie schaute sich mein Auge genauer an. Und noch genauer. Schrieb dann eine Adresse auf einen PostIt!-Zettel und sprach: “Fahren Sie bitte sofort in das Nordstadt-Krankenhaus nach Hannover. Ihre Netzhaut hat sich vollständig gelöst und Sie müssen schnell operiert werden.”
Das klingt nun rückblickend alles recht unterhaltsam, in Wahrheit war das jedoch eine sehr beunruhigende Situation. Wenn plötzlich ein Auge nur noch schwarz sieht, wird man reduziert auf die restlichen Sinne. Was, wenn das andere Auge auch noch schwarz wird? Was bleibt dann noch? Welche Perspektiven habe ich dann noch im Leben, welche beruflichen Möglichkeit? Das Leben ist ja im allgemeinen schon sehr auf das Sehen ausgerichtet. Wenn das also wegfallen würde, was gibt es dann für Möglichkeiten?
Das Leben wird durch solche Momente plötzlich viel wesentlicher. Man wird zurückgeworfen auf die eigentlichen Dinge, auf die es im Leben ankommt. Nämlich auf das Leben an sich, als eine Zeit die man nutzen darf auf Erden. Klingt pathetisch, ich weiß, ist aber trotzdem so. Worauf kommt es an? Was fängt man mit seinem Leben an? Wie nutzt man die Zeit, die noch bleibt? Alles Fragen, die so banal sie auch klingen, im Alltag oft untergehen.
Das Ganze ist nun über 6 Wochen her und ich bin sehr froh, diese Zeilen hier schreiben zu können. Und zwar mit Hilfe beider Augen!
Die Spezialistin in der Augenklinik konnte meine Netzhaut tatsächlich wieder anlegen! Da sie jedoch vollständig abgelöst war, war es unmöglich sie exakt wieder an die alte Position zu bringen. Ich sehe mit dem linken Auge nun sehr verzerrt. Perspektivisch verzerrt. Und das wird auch leider so bleiben. Mein Gehirn wird es mit der Zeit wieder ausgleichen. So habe ich quasi unverhofft eine Art “Superkraft” bekommen: Ich kann die Dinge gleichzeitig mit zwei verschiedenen Betrachtungswinkeln sehen!
Im gleichen Zeitraum hat zu allem Überfluss mein Arbeitgeber eine Insolvenz angemeldet. Der Job, der mein Leben im vergangenen Jahr am meisten begeistert hat, soll nun nach nicht mal 12 Monaten schon wieder auslaufen. Dabei ist er mittlerweile zu einer Art Lebensaufgabe für mich geworden. In meinen alten Job kann ich durch meine schwache Sehkraft nun leider nicht mehr zurück. So stehen neue Herausforderungen vor der Tür, die es zu Meistern gilt. Wie wird wohl alles werden?
Zum Glück habe ich jetzt meine Superkraft und bin damit quasi ein Superheld:
Der Perspektivwechsler!